Eine Kindheit in der Mühle

Brief von Waltraude Wichmann, Jahrgang 1925, geb. Lang, aus Hardebek (Schleswig-Holstein), an Ursula Lischka vom 24. Februar 2015

„Liebe Frau Dr. Lischka!

Soweit eine 90-Jährige nach Erinnerungen hat, habe ich es niedergeschrieben, wenn auch in schlechter Schrift. Sie können vielleicht etwas damit anfangen. Kopien dieses Briefes schicke ich an Olaf Lang (Anm.: Bruder von Waltraude Wichmann), falls ihm dazu noch Ergänzendes einfällt.

Herzliche Grüße, Ihre Waltraude Wichmann“

1930 bewarb sich Karl Lang (Anm.: Vater der Autorin) auf eine Annonce: Es wurde jemand gesucht, der eine heruntergewirtschaftete Getreidemühle in der Uckermark wieder reantabel gestalten würde. Die Familie Scherz besaß nur noch 10 % des Ganzen. Sie waren durch nicht bezahlte Getreidelieferungen vom Gut Kleptow Herrn Hertz verschuldet. Der alte Herr Scherz – erblindet – führte das Einstellungsgespräch und bat Karl Lang noch: „Seien Sie nachsichtig mit meinem Sohn“. Georg – Kosename „Gorgel“ – Scherz war in der Mühle beschäftigt (Einkauf). Es gab zwei Direktoren, wovon sich einer ziemlich auf Kosten der Mühle (Arbeitskräfte) am Wurlsee ein Wohnhaus bauen ließ – vorn am Retzower Weg.

Die Familie Scherz war groß: 6 Söhne und 1 Tochter, wie Kaiser Wilhelm II. Aber der Hof lehnte eine Patenschaft ab, weil Scherzens in einer englischen Kolonie gelebt hatten. Paul Scherz, der Gründer (Anm.: Eigentümer) der Mühle, hatte an der Strandpromenade ein Holzhaus bauen lassen (Anm. Standort Strandpromenade 1): Karbolineumgestrichen, weiße Fensterrahmen, pinkrote Fensterläden – daher im Volsmund als „Negervilla“ bezeichnet. Parterre wohnten Briefträger Schmidt + 2 Söhne, Friseur Breitzmann + 1 Tochter. Dann zog unten der Lkw-Fahrer der Mühle ein. Oben die vier 3-Zimmer-Wohnungen waren anfangs für die Familie Scherz als Sommerwohnungen, später für Buchhalterin und Obermüller als Wohnungen genutzt.  „Gorgel“ Scherz wohnte immer im 1. Stock, betreut von „Tante Käthe“.

Im Januar 1931 nahm Karl Lang auch in der Negervilla Quartier, Tante Käthe hat auch ihn versorgt und ich habe sie noch als ganz Liebe in Erinnerung, besonders zu uns Kindern. Zu Ostern 1931 sind wir – Mutter + 4 Kinder – erstmals in der Negervilla gewesen; denn die Wohnungen in der Mühle waren noch nicht frei.  Wir wohnten noch im Pfarrhaus bei den Großeltern in Jeßnitz/Anhalt. Dort war ich auch eingeschult worden – zur Sicherheit. Unser Vater hatte in Lychen schon Kontakte aufgenommen zu anderen „Kinderreichen“. Das war Schuhmacher Gaul mit 5 Kindern. Die Mittlere, Christel, war dann mit mir in einer Schulklasse, als wir im Sommer in die Wohnung an der Stargarder Straße zogen.

Wohnzimmer von Familie Lang - heute "Kaffeemühle"
Wohnzimmer von Familie Lang – heute „Kaffeemühle“

Die beiden „Direktoren“ waren nun nicht mehr da. Die Mühle war eine GmbH. Aus Regendorf bei Regensburg, der letzten Arbeitsstelle, holte Karl Lang den nun arbeitslosen Obermüller Hanke nach Lychen. Mit Frau und Tochter zog er in die Wohnung an der Stabenstraße ein. Ganz traurig verlief das Jahr 1931 für Hankes: Sophie Hanke starb bei der Geburt der zweiten Tochter. Als ich nach der Wende auf dem Friedhof war, stand der Grabstein noch: Beim Haupteingang auf der linken Seite.

Dann wurde ein Lkw-Fahrer gesucht: Möglichst ein Wandervogel. Es war ein Wandervogel der „Kronacher e.V.“, Rudi Semmler. Wohnung: Negervilla, parterre.

Nun wurden Absatzmärkte gebraucht: Herr Hertz war nun der Ansprechpartner in allen Dingen. Er arbeitete beim Kreiswehrersatzamt in Prenzlau, vermied aber seinen Namen gern, sondern ließ sich „Herr Hauptmann“ anreden (später „Herr Major“). In Warthe lebte ein Bäcker Dahms mit etlichen Kindern, seine Spezialität war „Dahm´sches Bauernbrot“. Eine Tochter hatte in Berlin-Weißensee eine Brotfabrik, Joseph Dahms im Berliner Norden. Dann gab es „Schlüter Brotfabrik“. Alle buken Brot für Berlin mit Mehl aus der Lychener Mühle. Täglich fuhr der Lkw mit Anhänger und 15 t Mehl nach Berlin – mittwochs auch nachmittags noch einmal 6 t.

Mehllieferung für Berlin
Mehllieferung für Berlin

Einer der Scherz-Brüder lebte in Afrika – ich glaube in Stanleyville (Anm.: heute Kisangani/Kongo) – die Familie kam im Sommer 1939 nach Deutschland zum Familienbesuch. Er musste wieder zurück, kurz bevor der Krieg ausbrach. Er wurde dort interniert. Ein Bruder mit Familie lebt in Berlin, er war Korvettenkapitän. Im Krieg zog dann seine Frau mit den Kindern Eike und Henning nach Lychen – natürlich in die Negervilla. Sie gingen in Hohenlychen in die Schule wie wir auch.

Ich bekam von Scherzens ab und zu mal etwas Afrikanisches geschenkt z.B. eine wunderschöne „Negerkette“ aus kleinen Perlen, die zum Festkleid getragen wurde. Meine kleinen Brüder durften sich mit dem Leopardenfell als wildes Tier verkleiden und Gorgel Scherz rettete die anderen Kinder dann. Das ist alles schon lange her …

 

Nachsatz: Waltraud „Traudel“ Wichmann hat ihren 90. Geburtstag am 1. Juli 2015 gemeinsam mit ihrem Bruder Olaf in der „Kaffeemühle“ gefeiert – noch vor ihrer eigentlichen Eröffnung einen Monat später. Beide saßen zu diesem Anlass also in ihrem Kinderzimmer … Sie tauschten viele Erinnerungen an die Mühlenzeit aus und ließen auch ihre Kinder, Schwiegerkinder und Mitglieder des Mühlenvereins teilhaben – siehe auch den entsprechenden Beitrag im Pressearchiv. Olaf Lang ist leider wenige Wochen später gestorben.

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Traudel Wichmann und Vereinsvorsitzende Carla Kniestedt am 1. Juli 2015